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Gummibär in AktionIch bin gut in Schätzfragen. Wenn jemand fragt, was ich besonders gut kann, sage ich: Schätzen. Robbie Williams kann singen, Timo Boll Tischtennisspielen, Claus Kleber Nachrichten vorlesen. Ich kann gut schätzen. Zuletzt habe ich bei Haribo einen Wettbewerb gewonnen, bei dem man die Anzahl von Gummibärchen in einer großen Glasdose erraten sollte. Ich lag nur um vier Bärchen daneben. Wenn ich nachts aufwache, schätze ich im Dunkeln zuallererst die Zeit. Gestern Nacht fast exakt bis auf zwei Minuten. Dann bin ich glücklich, danke meinem Gehirn und schlafe wieder ein. Leider ist meine Fähigkeit als Dienstleistung nicht gefragt. Wir Deutschen messen lieber millimetergenau und bevorzugen harte Zahlen. Deshalb arbeiten wir auch gerne mit diesen Laserpistolen, die den Abstand von Wand zu Wand mykromillimetertreu messen, damit die Tapete passt. Ich bin sicher: Alle Südeuropäer peilen solche Entfernungen ebenso wie ihre Steuereinnahmen über den Daumen.

Sojasprossen aus Ägypten

Mit solch fulminanter Expertise im Rücken sollte ich kürzlich schätzen, wie viel Prozent der Bevölkerung wohl mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden sind. Da wir immer irgendwas zu mäkeln haben und nie zufrieden sind, hab ich 5,3 gesagt. Der Umfragemensch hat mich zwar komisch angeschaut, aber ich blieb standhaft: 5,3 Prozent, zusammengesetzt aus Politessen und Steuerfahndern. Geld eintreiben bei anderen muss einfach glücklich machen. Alles andere eher nicht: 66 Prozent haben laut Statistik innerlich gekündigt, 20 Prozent haben Burnout-Syndrome, 7 Prozent sind dauernd krankgeschrieben, da bleibt nicht mehr viel übrig.

Mich wundert das überhaupt nicht: Unabhängig davon, dass uns der Spaß am Tag ja schon durch den morgendlichen Stau ausgetrieben wird und überkandidelte Radio-Moderatoren alles nur noch schlimmer machen, haben unsere Arbeitsplätze heutzutage nichts mit kreativer Gestaltung, Selbstentwicklung und innovativen Ideen zu tun, über die wir in den Hochglanzprospekten ständig stolpern. Arbeitsplätze in der globalisierten Welt sind normiert, durchgetaktet und auf zuverlässiges Funktionieren ausgelegt, auf nichts anderes. Selten zuvor sind Unternehmen so reguliert gewesen wie heute: Compliance-Regeln, Corporate-GovernanceVorschriften, die Richtlinien der Einkaufsabteilung, überhandnehmende Dokumentationspflichten, DIN-Normen, Abwasservorschriften, Arbeitsschutzvorschriften, die Regeln der Controllingabteilung und der internen Revision.

Zufällig und dummerweise hat Ihr Laden sich auch den Fair-Trade-Regeln unterworfen, den UNESCO-Richtlinien für Kinderarbeit und dem Kodex des Deutschen Ethikrats. In großen Firmen hat man bis zu 100 solcher Vorschriften gezählt. Das ist der Preis, den wir für unsere eigene Kontrollwut, aber auch für die Intransparenz von Produktionsprozessen in der globalen Welt zahlen: Wenn Sojasprossen aus Ägypten oder Erdbeeren aus China durch zehn verschiedene Hände gehen, bevor sie verseucht bei uns ankommen, ist es ganz gut, wenn man irgendwo nachschauen kann, wer für den ganzen Schlamassel verantwortlich ist.

Verschleppt und zerrieben

Unternehmen bewerten den Erfolg eines Tages danach, ob er reibungslos verlaufen ist; ob die Prozesse funktioniert haben und alles zuverlässig abgewickelt wurde: Transporte, Anlieferung, Produktion, IT. Sie fragen nicht danach, wie viele Ideen unausgelastete Mitarbeiter wieder ausgebrütet haben. Das ist dann auch der Sinn von Führung: Führungskräfte werden dafür bezahlt, dass sie betriebliche Prozesse reibungslos organisieren, nicht für die Förderung von verquasten und abgehobenen Ideen. In diesem Umfeld, man muss das nur logisch weiterentwickeln, ist für hemdsärmelige Kreativität und Selbstgestaltung des Arbeitsplatzes kein Raum. Kreativität bringt Abläufe durcheinander. Kreativität bringt Stress. Ihnen selber auch. Jedem ist das schon mal passiert, dass er eine tolle neue Idee hatte und von Tag zu Tag frustrierter wurde, weil die Idee nicht freudig aufgegriffen, sondern offen abgelehnt, verschleppt und zerrieben wurde. Misstrauen und Skepsis schlägt Ihnen entgegen und plötzlich haftet Ihnen auch noch der Ruf an, Sie wollten sich nur beim Chef Liebkind machen. Daraus entsteht dann die innere Kündigung.

Niemand will Sie wirklich fördern

Kreativität und Innovation sind systematisch ausgelagert in „Innovationstage“, Kongresse oder Workshops, in denen man sich einmal einen Tag lang an großen Papierleinwänden austoben darf. Im betrieblichen Alltag haben solche geistigen Höhenflüge nichts zu suchen. Das liegt nicht an dumpfbackigen Mitarbeitern, wie wir gerne unterstellen, sondern am System selbst, das nur ein einziges Ziel hat: zu funktionieren.

Funktionieren andererseits ist eine Grundvoraussetzung für Qualität, Verlässlichkeit und Weltstandards. Wir sollen nur nicht immer so tun, als ob Funktionieren spannend wäre. Im Gegenteil: Es ist extrem langweilig. Und letztlich ist es nur ein methodischer, kein qualitativer Unterschied, ob wir wie vor 100 Jahren am Band arbeiten oder uns täglich zwischen Dutzenden von Vorschriften durchhangeln. Aus dem gleichen Grund müssen wir auch nicht hoffen, dass Führungskräfte oder Vorstände ein Interesse an der langfristigen Weiterentwicklung ihrer Mitarbeiter haben. Entweder funktionieren diese an dem Platz wie vorgesehen oder sie werden ausgewechselt. Mitarbeiter zu entwickeln, bis sie den benötigten Standard erreicht haben – dazu fehlt Unternehmen in diesen extrem schnellen roll-over-Zeiten genau dies: die Zeit. Viel produktiver ist es, sich ein fertiges Endprodukt, in diesem Fall ein entsprechendes Mitarbeiterprofil, vom Markt zu kaufen. Die Personal-Verantwortlichen werden es nicht gerne hören, aber all ihre schönen Programme werden bald der Vergangenheit angehören.

Keine Bildhauer im Unternehmen

Mitarbeiter schätzen über den Daumen, dass sie die Hälfte ihrer Arbeitszeit damit verbringen, Prozesse am Laufen zu halten, rund 25 Prozent damit, sich „abzusichern“; dass 20 Prozent für „soziale Kontakte“ draufgehen und sie nur 2-3 Prozent der Zeit Muße haben, einmal über den Tag hinauszudenken. Dass so etwas keine innere Zufriedenheit schaffen kann, liegt auf der Hand. Daran ändern auch alle Bespaßungsaktionen der Unternehmensleitung nichts. Wer kreativ tätig sein will, der soll Maler, Bildhauer oder Musiker werden. In einem klassischen Unternehmen hat er nichts verloren. Wir werden diese Situation nicht von heute auf morgen verändern. Viel spricht dafür, dass sie sich eher noch verschärfen wird. Was wir aber tun können, ist, einen nüchternen Blick auf dieses System zu werfen und uns nicht täglich in die eigene Tasche zu lügen und zu wundern, wenn wir wieder einmal eine Statistik über Tausende von heimlichen „Aussteigern“ vor uns liegen haben. Wir müssen diese Widersprüche zum Thema machen. Sonst muss ich bei der nächsten Umfrage nach der Zufriedenheit am Arbeitsplatz wieder antworten: 5,3 Prozent. Oder schätzen. Schätze ich.

(Bild: © Tubeland – Fotolia.de)

Dr. Klaus-Ulrich Moeller

Dr. Klaus-Ulrich Moeller ist Kommunikationsberater, Kolumnist, Speaker und Autor. Er war PR-Chef bei der Deutschen Lufthansa, der TUI und beim weltweiten Beratungskonzern PricewaterhouseCoopers. Viele Jahre hat er mit Unternehmern im Unternehmernetzwerk Vistage International gearbeitet. Als Journalist schreibt er satirische Kolumnen. Für die Aufdeckung der STERN-Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher erhielt er den renommierten Theodor-Wolff-Preis. Mehr Informationen unter: www.creative-comm.de.

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One Comment

  • Werner Gielsdorf sagt:

    Ja, eine zutreffende Analyse. mein Chef hat mir einmal auf meine „Verbesserungsvorschläge“ geantwortet „Werner, don’t rock the boat“. Also Mund halten und das tun was angeordnet wurde.
    Die Globalisierung hat uns den ganzen Regulierungs-/ Vorschriftenwust eingebracht, aber nicht funktioniert. Wenn BMW in den USA mehr Autos „zurückrufen“ muss als sie verkaufen, stimmt das doch nachdenklich!

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