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"Beine an die Börse!" - Was ist der Mensch noch wert? [Kolumne]Das Traurige an unserer menschlichen Existenz ist, dass jeder einzelne von uns kaum etwas von dem kann, was man insgesamt, rein theoretisch gesehen, können könnte:

  • Wir beherrschen keinen Aufschlag wie Boris Becker,
  • wir können nicht mit fünf Bällen jonglieren und
  • wir kriegen kein Kerbelkraut in affenartiger Geschwindigkeit kleingeschnitten wie Johann Lafer.

Wir wären schon froh, wenn wir Kerbel von Salbei unterscheiden könnten. Und selbst wenn wir wollten, würden wir wahrscheinlich elendiglich scheitern, wenn wir eine Bank ausrauben oder uns ein rollierendes Discount-Zertifikat ausdenken sollten wie die Finanz-Haie, bei dem die Haie Millionen und wir gar nichts verdienen.

Der einzelne Mensch durch Drohnen & Roboter ersetzt!

Wir müssen es so drastisch sagen: Von den Milliarden Möglichkeiten des theoretischen menschlichen Könnens kann der einzelne Mensch fast gar nichts. Diese tiefsinnigen Betrachtungen führten uns kürzlich bei einem geselligen Bierabend zu der Frage, was der Mensch angesichts dieser niederschmetternden Erkenntnis überhaupt noch wert ist? Denn auch mit unserem Wissen ist es ja nicht so weit her, das belegen alle Pisa-Studien. Nicht umsonst haben die Unternehmen, die damit mal angefangen haben, den Versuch, Wissensbilanzen aufzustellen, ganz schnell wieder eingestellt. Die Ergebnisse waren niederschmetternd.

Unsere eintönige Arbeit im Büro können inzwischen Drohnen oder Roboter oder Mindestlohnempfänger erledigen. Warum der Mitarbeiter die wertvollste und wichtigste Ressource im Unternehmen sein soll, erschließt sich nur den Marketing-Menschen, die solche Sätze in ihre bunten Broschüren schreiben und das dann „Vision“ und „Mission“ nennen. Nachdem wir so den gemeinen Mitarbeiter und Menschen gedanklich auf die Größe einer gemeinen Waldameise zurückgestutzt hatten, warf jemand am Tischende, der sich bisher wohlwollend zurückgehalten hatte, ein, man müsse den Menschen einfach an der Börse handeln, dann wüsste man sehr schnell, was er wert sei.

Die Aktie „Mensch“ – Jeden Tag ein neuer Wert

Nach dieser wegweisenden, ja bahnbrechenden Bemerkung schwiegen wir erstmal und sinnierten, wie man eben so über seinem Bierglas sinniert: In der Tat, warum sollte für den Menschen nicht auch täglich ein Wert festgelegt werden wie für Währungen, Rohstoffe, Unterwäsche, Unternehmen, Immobilien – auch alles Dinge, die kein Mensch braucht. Warum sollte nicht endlich mal Transparenz in dieses ganze Werte- und Sozialgedöns kommen?

Dann würde auch der Trottel um die Ecke bei mir, der nicht bis fünf zählen kann, endlich mal sehen, wo er wirklich steht. Und der gelackt gelockte Gockel, der Gerüchten zufolge kürzlich die hübscheste Frau im Golfclub abgeschleppt hat, würde am Morgen in der Zeitung das Urteil der Börsianer sehen: Crash, Absturz, Pennystock. Solche Turbulenzen mag die Börse nicht.

In diesem Moment allgemeinen Sinnierens richtete sich Heinz, ein erfolgreicher Erfolgscoach, zu voller Größe auf, erklärte, das sei alles bereits Realität, bestellte eine Runde Korn zum Bier und stieß auf seine eigene – bereits erfolgte – Börsennotierung an. Wie wir feststellten, hatte er den Ausgabekurs auf 100 Euro festgelegt und 23 seiner Facebook-Freunde sowie einigen Kreativ-Beratern und Künstlern, die allem Neuen gegenüber offen sind, Anteile angedreht.

Außerdem hatten drei arabische Scheichs Aktien an ihm erworben, die ihn irrtümlich für den Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft der Frauen gehalten hatten. Heinz hatte am Abend 3,4 Millionen Euro auf seinem Konto. Sechs ins Lokal hereindrängende Fremde fielen ihm um den Hals, weil sie mit einem endlosen Turbo-Bull-Zertifikat auf ihn mit 80-fachem Hebel 50 Millionen eingesackt hatten.

Was ist der Partner überhaupt noch wert?

Eine neue Welt warf ihre hellen Strahlen auf unsere leicht alkoholisierten Gesichter: Die tägliche Börsenseite – eine wahre Fundgrube. Mehdorn, Pofalla, Hoeness, Tebartz van Elst, der Chef des ADAC – das würde die Börse alles gnadenlos abstrafen. Da würden wir uns schadenfroh die Hände reiben, wenn Hartmut Mehdorn eines Morgens weniger wert ist als unser Rauhhaardackel. Und endlich könnte man seinen eigenen Partner transparent und fair beurteilen lassen: Ist der überhaupt noch was wert?

Was würde die Börse zahlen, wenn man ihn anbietet auf dem Parkett? Allerdings kann die Börse unerbittlich sein: Wenn Sie morgens aufwachen und sehen, dass Sie nur noch 15 Euro wert sind, dann hat die Börse ihre Zukunft schon „eingepreist“, wie man das nennt. Auf gut deutsch gesagt, sie traut Ihnen nicht zu, dass aus Ihnen noch mal was Ordentliches wird. Aber Sie wissen dann wenigstens Bescheid.

Körperteile an die Börse: Um seines Kurses willen selbst zerfleischen

"Beine an die Börse!" - Was ist der Mensch noch wert? [Kolumne]Und ein letztes: Sie können schon mal überlegen, welche Teile Ihres Körper Sie an der Börse abstoßen können, also alles, was Sie sowieso nie benutzen: Gehirn, kleiner Zeh, Rachensegel. Denn an der Börse sind die Einzelteile mehr wert als das Ganze – wer auch immer das erfunden hat. Nehmen Sie mal Siemens. Die einzelnen Sparten von Siemens sind, für sich genommen, mehr wert als der Konzern insgesamt.

Wenn Sie sich also ein Bein abhacken, als Beispiel nur, ist das Bein mehr wert als wenn es noch mit Ihnen verbunden ist. In der neuen transparenten Börsenwelt geht der Mensch, um noch etwas zu gelten, also seinem eigenen Untergang entgegen. Er zerfleischt sich um seines Kurses willen selbst.

Der Kneipier brachte in diesem Moment eine letzte Runde Bier, die wir mit Anteilsscheinen bezahlten. Als Sicherheit boten wir die Vision auf uns selber an, als wir merkten, dass wir erst jetzt wirklich in der neuen transparenten globalen Welt angekommen waren. Es wurde auch Zeit.

Dr. Klaus-Ulrich Moeller

Dr. Klaus-Ulrich Moeller ist Kommunikationsberater, Kolumnist, Speaker und Autor. Er war PR-Chef bei der Deutschen Lufthansa, der TUI und beim weltweiten Beratungskonzern PricewaterhouseCoopers. Viele Jahre hat er mit Unternehmern im Unternehmernetzwerk Vistage International gearbeitet. Als Journalist schreibt er satirische Kolumnen. Für die Aufdeckung der STERN-Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher erhielt er den renommierten Theodor-Wolff-Preis. Mehr Informationen unter: www.creative-comm.de.

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